Es ist 2:30 Uhr morgens. Oder vielleicht in der Nacht? Schwer zu sagen. Doch ich bin keineswegs müde, ganz im Gegenteil. Ich nehme meinen Rucksack und steige ins Auto. Auf dem Weg plumpsen schon so viele Gedanken in meinen Kopf. Ich bin immer noch sehr aufgeregt wegen einer ziemlich heftigen Diskussion, an der ich am Vortag teilgenommen habe. Es ging zwar nicht um das Thema meiner baldigen fotografischen Begleitung, aber trotzdem um die Frage, wann eine Frau, Frau sein darf. Wann wird eine Frau zu einer Frau? Was macht uns zu Frauen? Ich bin angekommen. Zum Glück parke ich mein Auto nicht weit weg von meinem Ziel, denn es ist unangenehm, als Frau allein um diese Uhrzeit durch die Straßen zu laufen.
Der Anfang
Andreas, mein heutiges Model, ist auch mein persönlicher Friseur. Niemand außer ihm darf meine Haare schneiden. Er ist einfach der Beste. Wir verstehen uns fantastisch und ich liebe meine Wellness-Zeit bei ihm. Als introvertierte Person fällt es mir schwer, mich zu öffnen oder mit Leuten nur über das Wetter zu sprechen. Finde ich zwar nett, aber sinnlos. Doch mit Andreas kann ich über alles sprechen und das tun wir auch jedes Mal. Wehwehchen, brandaktuelle globale Themen oder längst vergessene. Alles steht auf unserem Plan. Und da ich durch meine Hochsensibilität viel mehr sehe, merke ich schnell seine stilvolle, schwarze Perlenkette. Was dahinter steckt, werde ich schnell erfahren.
Organisiert und klar
Die Wohnung meines Gastgebers ist außergewöhnlich schick eingerichtet. Alles hat seinen Platz und es herrscht eine gemütliche und sehr ordentliche Atmosphäre. Andreas ist noch etwas verschlafen – schließlich bekommt man nicht jeden Tag mitten in der Nacht Besuch. Warum wir uns so früh treffen, wird mir schnell bewusst, als ich das Outfit für die heutige CSD-Parade in Hamburg sehe. Alles ist bis ins kleinste Detail vorbereitet und sortiert. Es wird einen Army-Look geben: blonde Haare und eine Pistole mit Seifenblasen. Doch neben viel Tarnmaskierung gibt es auch viel Gold und Glitzer. Andreas wirkt etwas schüchtern, doch mutig kämpft er sich vor meine Kamera, noch ohne seinen dargestellten Charakter.
Drag Queen höchstpersönlich
Ich weiß nicht mehr genau, wie wir zu diesem Thema kamen, aber irgendwann erzählte mir Andreas von seiner großen Leidenschaft. Er hat sein Alter Ego kreiert – Shiraw Lavuu – und erobert als Drag Queen die Hamburger Straßen und Partys. Andreas zeigt mir die Fotos von seinem künstlerischen Charakter und nach ein paar Minuten Erzählung war ich Feuer und Flamme, um diese Verwandlung zu dokumentieren. Er erzählte mir, dass diese Verwandlung bis zu 5 Stunden dauert und selbstverständlich nur für ein paar Stunden „angezogen“ wird. So viel Mühe, denke ich mir, für eine Party oder einen Auftritt. Ich bin schon froh, wenn ich 10 Sekunden darauf verwende, um meine Wimpern zu färben. Ich wollte es unbedingt live sehen.
Glitzernde Welt
Schicht nach Schicht verwandelt sich Andreas in seinen Charakter. Ich bin bei jedem Schritt baff, wie viel Wissen und vor allem Zeug dahintersteckt. Andreas’ Schminktisch sieht aus wie aus einem Make-Up-Artist-Salon ausgeschnitten. Haufenweise Glitzer, Lippenstift, künstliche Wimpern und Accessoires. Ein Traum jedes kleinen Mädchens, denke ich mir. Bunt, fröhlich und einfach so verspielt. In meinem schwarz-grauen Outfit komme ich mir ziemlich langweilig vor. Wieso eigentlich nur Mädchen, denke ich mir, und musste sofort an meinen Neffen denken, dem noch nicht erzählt wurde, dass es nichts für Jungs ist. Ja, das ist definitiv ein Traum von jedem Mann und jeder Frau, die auf Glitzer stehen, korrigiere ich meine Gedanken.
Kinder kennen keine Rollen
Wann haben wir eigentlich einem Jungen gesagt, dass Glitzer nichts für ihn ist? Wann wird einem Mädchen gesagt, dass sie nicht stark und selbstbestimmt sein darf? Wann vergiften wir eigentlich die jungen Gedanken und quetschen unsere Kinder in Muster? Ich habe großes Glück, von Müttern umgeben zu sein, die ihre Kinder nicht schubladisieren und sie so wachsen lassen, wie sie möchten. Trotzdem merken wir schon in sehr frühem Alter Unterschiede zwischen den Geschlechtern und doch probieren die Kinder ständig etwas aus, das dem anderen Geschlecht zugeordnet ist, und sie haben echt Spaß daran.
Die Sonne geht auf
Ich frage viel. Andreas antwortet ohne Scham und Zögern. Er erzählt mir viele Insider-Geschichten aus dem Leben einer Drag Queen und eine Frage brennt auf meinen Lippen: „Bist du Drag Queen, weil du eine Frau sein möchtest?“ Andreas antwortet sofort und mit voller Überzeugung: „Nein.“ Es ist nicht seine Absicht, eine Frau darzustellen, weil er eine sein möchte. Dann hätte er das Geschlecht geändert. Er findet sein Alter Ego einfach super unterhaltsam und liebt es, sie zu spielen. Es ist eine Kunstform, die einem Schauspieler sehr ähnelt. Er mag es, ein Mann zu sein, und sieht keine Parallelen zu seinem gespielten Charakter. Er mag es, diese Rolle anzunehmen, um einfach Spaß zu haben und für kurze Zeit in eine andere Welt einzutauchen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie die Wolken Regenbogenfarben annehmen. Wie passend.
Video und Viking Games
Ich musste sofort daran denken, wie ich viele Jahre ein RPG-Spiel gespielt habe. Ich liebte es auch, dort einen Charakter anzunehmen, der mit der Realität nichts zu tun hatte. Es war befreiend, den Alltag hinter sich zu lassen und für ein paar Stunden jemand ganz anderes zu sein. Es war wohltuend und nicht verwerflich. Denn nach dem Spiel war ich wieder ich. Computer aus und zack, alles war in Ordnung. Oder meine Mittelalter-Veranstaltungen. Ich liebe es, mein Gewand anzuziehen. Für kurze Zeit einfach ein anderes Leben zu führen, ohne auf mein eigenes zu verzichten. Um ehrlich zu sein, diese Kleidung würde ich auch im Alltag tragen wollen, aber ich glaube, mir fehlt der Mut.
Die Königinnen gehen live
Andreas erzählt mir von seinem besten Freund und dass er gleich einem von ihnen bei seinem Live-Stream auf TikTok zuschauen wird. So habe ich es zumindest verstanden. Doch nach ein paar Minuten klinke sich Andreas dazu ein und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist so um 5 Uhr morgens und mit meiner ganzen introvertierten Seele denke ich, nur bloß keine falsche Bewegung oder kein falsches Wort jetzt. Du bist auch live dabei. Doch das ist unnötig, denn die beiden Jungs machen daraus einfach eine Unterhaltung, während sie sich für die große Parade schminken. Es ist lustig und ungezwungen. Plötzlich reagiert Andreas’ Freund etwas genervt und gelangweilt und ich schaue mir den Chatverlauf an. Was ich sehe (außer natürlich vielen freundlichen Kommentaren), sind hasserfüllte Kommentare von Nutzern mit zigstelligen Nummern, die die beiden verspotten und beleidigen. Ich frage um Erlaubnis, es abzufotografieren.
Online ist alles erlaubt
Ich denke mir, wtf. Wer um Gottes Willen steht um 5 Uhr morgens auf, um andere fertigzumachen? Sorry, aber die meisten schlafen noch oder feiern schön. Es müssen Bots sein, denke ich mir. Doch hinter jedem Bot steht ein Mensch, der programmiert, und diese Kommentare sind vielleicht gar nicht von KI entwickelt. Und viele kommen mir auch so bekannt vor. Propaganda und Hass. Niemand zwingt diese Leute zuzuschauen. Was mir aber auffällt: Viele von diesen Kommentaren sind frauenfeindlich. Die Angreifer versuchen, die beiden immer wieder zu entmutigen, indem sie die Weiblichkeit ihrer Charaktere angreifen.
Ist es eine Beleidigung, eine Frau zu spielen?
Ich musste sofort an die Teilnehmer des Mittelaltermarkts denken. Wenn ein Mann einen Ritter, Wikinger oder sogar einen Uruk darstellt, dann ist alles gut und bewundernswert. Aber wenn ein Mann eine Frau darstellt, dann ist er sofort „krank“ und verdammt. Ist nicht männlich genug. Denn den Frauen wird alle Stärke und Ehre genommen. Auch wenn Drag Queens ein ziemlich groteskes Bild von einer Frau darstellen, ist es trotzdem fast immer eine starke Frau, die sich nichts gefallen lässt. Vielleicht ist das das wirkliche Problem mit den ganzen Hasskommentaren. Vielleicht geht es hier gar nicht um die Männer, die sie spielen, sondern darum, dass die Frauen plötzlich als bewundernswert dargestellt werden. Domina – eine Herrin des Hauses. Und vor allem, dass die Männer es wagen, sie zu spielen.
Welches Bild haben Frauen von Frauen?
Bestimmt wird mich die eine oder andere Feministin gleich angreifen, doch es ist nicht meine Absicht, echten Frauen ihre Authentizität zu stehlen. Ganz im Gegenteil: Ich wünschte, dass mehr von uns den Mut hätten, unsere Meinung und Stärke zu zeigen. Unsere Vielseitigkeit zu zeigen, sich nicht entmutigen zu lassen und laut zu sein, wenn wir es wollen. Zu zeigen, dass weiblich zu sein nicht mit „schwach“ gleichzusetzen ist und dass wir stolz auf uns selbst sein dürfen. Und dass es Künstler gibt, die uns so wichtig finden, dass sie uns nachspielen wollen.
„Mehr ist mehr“
Andreas ist sich völlig bewusst, dass er mit seinem Make-up völlig übertreibt. Keine Frau auf der Erde würde sich im Alltag so schminken. Aber genau das ist es. Es sollte nicht real sein. „Mehr ist mehr in der Drag-Welt“, sagt Andreas. Es soll übertrieben sein, es soll glamourös sein, es soll den Wow-Effekt haben. Niemand möchte hier Realität einlassen. Es soll wie nicht aus dieser Welt sein. Es sollte bunt sein, mit viel Glitzer und toupierten Haarschnitten. Je mehr Schminke auf Andreas Gesicht kommt, desto selbstbewusster wird er. Plötzlich, nach 5 Stunden, zwinkert mir Shiraw LaVuu zu.
Die Königin ist geboren
Shiraw LaVuu ist eine echte Diva. Jede ihrer Bewegungen ist ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Sie genießt es, fotografiert zu werden. Sie reagiert auch nicht auf die Hasskommentare. Die beiden Queens genießen den Prozess und wollen gleich richtig viel Spaß auf der Parade haben. Sie akzeptieren sich völlig, wie sie sind. Wie bewundernswert. Einfach zufrieden mit sich selbst sein. Sein Leben genießen und Spaß haben. Für die eigene Kunst stehen und sie ausleben. Die Verspottung ist ihr Alltag und trotzdem machen sie weiter. Nicht jeder würde es aushalten. Doch dafür brennt ihr Herz. Es ist eine Leidenschaft. Es ist eine Kunst.
Verdammte Kunst
Ich bin geflasht, aber auch ernüchtert, in welcher Welt wir leben. Leben und leben lassen. Das haben wir noch nicht als Spezies verstanden, denke ich mir. Mir wird auch klar, wie mutig Andreas und seine Freunde sind. Ich denke mir, ihr seid viel mutiger als jeder der Angreifer im Chat. Gesichtslos und namenlos. Nicht mal mutig genug, um sich mit eigenem Namen zu identifizieren. Der wahre Mut liegt nicht darin, sich in Gewalt zu verstecken, sondern mit Liebe und Zuversicht entgegenzutreten. Ich wünsche mir, dass es mehr davon gibt. Ich wünsche uns, dass wir den Hass besiegen können. Und vor allem, dass wir uns informieren, bevor wir urteilen und anderen das Leben zur Hölle machen.
Epilog
Ich schaue mir die Bilder auf dem PC an und denke, wie ikonisch sie doch geworden sind. Gleichzeitig sehe ich ein Reel auf Instagram, in dem gezeigt wird, was Menschen über Frauen denken. Was denken sie über unsere Bewegungen, Kämpfe und das Sprechen? Die ersten Reaktionen veralbern uns Frauen, egal von wem sie dargestellt werden. Bis ganz junge Mädchen gezeigt werden, die mit ganzer Kraft ihre Stärken zeigen. Voller Überzeugung und Mut. Den Erwachsenen wird plötzlich bewusst, wie lächerlich sie die Frauen dargestellt haben. Ihnen wird es peinlich. Ich werde traurig. Dann schaue ich mir das letzte Bild von meinem Fotoshooting mit Andreas an. Er wirft mir einen Kuss zu.
2 Antworten
Puuuh….du hast mich mit deinem Bericht und den einfach supertollen Bildern von Andreas ziemlich geflasht. Wenn ich mich erinnere, hast du in der Vorankündigung zu diesem Newsletter etwas von unterschiedlichen Blickwinkeln geschrieben. Jetzt weiß ich, was du damit gemeint hast. Dieser Bericht geht in eine vollkommen andere Richtung als ich es erwartet hätte. Vielen Dank, liebe Magda, dass du nicht nur mit deinen fantastischen Fotos, sondern auch mit deinen Newslettern bewegst und zum Nachdenken anregst.
Deine Erfahrung mit dem Artikel berührt mich sehr liebe Martina <3 Es war nicht meine Absicht es so tief zu gestalten aber manchmal entscheidet das Leben für uns. Es war eine wunderbare Erfahrung und ich hoffe das nicht mein letztes Fotoshooting mit diesem großartigen Künstler.